Es donnert gewaltig, dann folgt ein Blitz, der die
schnell hereinbrechende Dunkelheit gleißend durchbricht. Plötzlich kann ich die
Stadt hell erleuchtet vor mir liegen sehen. Ich stehe auf einer Terrasse im
obersten Stockwerk eines Hauses, das auf einem kleinen Hügel der Hauptstadt
Boliviens liegt. Mein neues Zuhause. Bienvenido a Sucre!
Als die Wolken zerbrechen und der Regen die letzten
Sonnenstrahlen des Tages verschwimmen lässt, bin ich wieder in meinem Zimmer.
Es ist ziemlich groß und die Fenster auf Südost- und Nordwestseite lassen
tagsüber viel Licht und Wärme herein. Neben einem Bett und einem
Kleiderschrank, den ich noch gar nicht wirklich zu füllen weiß, gibt es einen
Schreibtisch mit Stuhl, einen Sessel sowie ein Bücherregal. Ich glaube, hier
werde ich mich die nächsten 11 Monate sehr wohl fühlen.
Der Blick aus meinem Zimmer über Sucre |
...und von unserer Terrasse! |
Tatsächlich bin ich nun seit mehr als zwei Woche
hier in Sucre, in meiner neuen Gastfamilie – zusammen mit Katharina aus Wien.
Wir teilen uns das oberste (3.) Geschoss des großen Hauses, in dem außer uns
noch (mindestens) 7 andere Personen leben.
Am Tag unserer Ankunft, am 22. September, wurden
wir hier sehr herzlich begrüßt: „Ich bin jetzt eure Mama!“, so umarmte uns
Justa, die Hausherrin und Mutter von 4 Kindern, die selbst auch schon Kinder
haben.
Unsere Gastfamilie
hat seit 2006 insgesamt bereits 20 andere Freiwillige bei sich aufgenommen,
deshalb gelten auch für uns klare Regeln. Das ist gut, denn viele Fragen
konnten so am Anfang geklärt werden. Wir sind für unser Geschoss, also unsere Zimmer
und ein Bad, zuständig und halten es sauber. Wenn uns an Lebensmitteln etwas
fehlt (wie zum Beispiel Marmelade oder Müsli), kaufen wir es uns selber. Wir
leben hier also relativ autonom, was mir mittlerweile gut gefällt.
Mittags, zur Hauptmahlzeit, kommt (fast) die ganze
Familie zusammen und isst gemeinsam. Das bedeutet auch für mich, dass ich
vormittags im Projekt arbeite, zum Mittagessen nach Hause fahre und danach
wieder ins Projekt gehe. Ist es nicht schön, dass es hier Brauch ist, dass man
mittags Zeit für seine Familie hat?
Aber noch einmal zurück zu meiner Ankunft:
Die Herfahrt zuvor in einem unglaublich komfortablen (und das ist
keine Ironie!) bolivianischen Reisebus hat leider 16 statt den geplanten 12
Stunden gedauert, denn unser Bus hatte (ganz unerwartet...) keinen Diesel mehr
im Tank. So sind wir erst gegen Mittag ziemlich erschöpft in Sucre angekommen.
Sucre wird in meinem Reiseführer wie folgt beschrieben:
„Die 1538 gegründete Stadt auf 2790 Metern zählt
heute über 400.000 Einwohner und hat
eine ausgesprochen entspannte Atmosphäre und ein andalusisch anmutendes Flair.
Mit ihren wunderschönen, weißen Kolonialbauten, den gepflegten Plazas und
Parques ist Sucre die schönste Stadt Boliviens. (...) sie wurde 1992 zum
UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Sucre ist die konstitutionelle Hauptstadt
Boliviens, doch bis auf den obersten Gerichtshof befinden sich alle
Regierungseinrichtungen in La Paz.
(...) Die Stadt wurde (übrigens) nach dem
Freiheitskämpfer und späteren Präsidenten Don Antonio José de Sucre benannt.
(...) 1623 wurde hier eine der ersten Universitäten
Südamerikas gegründet, und die 20.000 Studenten der Stadt bestimmen mit ihren
Bars und Kneipen heute die Atmosphäre. (...)“
Da meine Heimatstadt Fulda mit ihren etwa 60.000
Einwohnern nicht gerade zu den größten Städten Deutschlands zählt, war ich sehr
zufrieden, in einer bolivianischen Stadt mit „Kleinstadtflair“ leben zu dürfen.
Ich kann auch bestätigen, dass Sucre – gerade im Vergleich mit La Paz – eine
sehr angenehme, ruhigere Atmosphäre hat (das ist besonders am Verkehr deutlich
zu sehen: es wird viel weniger gehupt und geschimpft...). Es fahren hier sogar
Linienbusse, die zwar keine Haltestellen oder feste Zeiten haben, aber
ausgesprochen günstig sind und mit denen man in 15-30 Minuten fast die ganze
Stadt durchqueren kann. Von meinem Wohnort aus kann ich in 10 Minuten (bergab)
zum Zentrum laufen – das ist wirklich perfekt und erleichtert einiges.
Die Kolonialbauten sind wirklich wunderschön und
sehr beeindruckend! Aber ich muss zugeben, dass ich mir nach den vielen
Schwärmereien über die Schönheit der Stadt noch viel mehr weiße Häuser
vorgestellt habe. Nichtsdestotrotz ist die Innenstadt sehr gepflegt und es gibt
viele ruhige Plätze zum Verweilen, zum Beispiel den Parque Bolivar, einen
großen Park nahe des Zentrums, dem Plaza 25 de Mayo. Dort habe ich mir
Sonntagabends schon die „Aguas danzantes“ angesehen, das ist ein Spiel von
Wasserfontänen zu Instrumentalmusik, wirklich wunderschön und sehr romantisch!
Die Bewohner Sucres sind tatsächlich unglaublich stolz auf ihre Stadt (Aufschrift eines Schildes aus dem Park: Sucre, die Stadt, in der die Kultur zu Hause ist...) und ihre Sehenswürdigkeiten – was sie aber sympathisch macht.
Zuletzt zu den vielen Cafés, Bars, Restaurants –
ich glaube, man könnte einen Monat lang jeden Tag in ein anderes Café gehen, so
viele süße kleine Orte gibt es rund um den Plaza 25 de Mayo. Im Moment sind wir
noch in der Testphase (der Free-Wifi-Restaurants), aber mir gefallen sie schon
jetzt sehr gut. In den Bars spielen am Wochenende oftmals Live-Bands und deren
Musik ist auch tanzbar – einen Clubbesuch haben wir uns dagegen für das
kommende Wochenende vorgenommen.
Alles in allem gefällt mir die Stadt sehr gut und
der Reiseführer hat nicht zu viel versprochen. Ich kann euch allen einen Besuch
hier sehr empfehlen!
Anika, Tomke, Maria und Kathi auf dem Plaza 25 de Mayo |
Mein Projekt
„CERPI“ habe ich schon am Freitag, dem 25. September, zum ersten Mal kurz
besucht. Am Montag darauf sollte es dann richtig losgehen – aber dazu später
mehr. Von meinem Zuhause sind es etwa 20 Minuten mit dem Bus zum Stadium der
Stadt, wo ich aussteige und anschließend noch 5-7 Minuten zum Projekt laufe.
Ich arbeite in einem Tageszentrum für Kinder und
Jugendliche, das verschiedene Einzelprojekte unterhält. Zum Beispiel werde ich
die „Escuela movil“ unterstützen, eine, wie der Name schon verrät, Schule auf
Rädern, die jeden Tag in einem anderen Stadtteil Sucres ihre Zelte aufschlägt,
um den dort lebenden Kindern die Möglichkeit zu geben, spielend zu lernen. Die
„Escuela movil“ kann man sich wie eine große Tafel mit verschiedenen
didaktischen Übungen vorstellen, die an das Niveau der Schüler angepasst werden
können. Sobald ich etwas mehr Erfahrung mit dieser Methode gesammelt habe,
werde ich genauer darüber berichten.
Außer mir hat auch Maria, ebenfalls eine
Freiwillige des ICYE (auch aus Wien), am Montag angefangen, bei diesem Projekt
zu arbeiten. Das ist sehr schön für mich, denn so können wir uns austauschen
und Fragen klären.
An unserem ersten Tag haben wir dann also auch die
anderen 4 Freiwilligen kennen gelernt, die CERPI ebenfalls unterstützen. Sie
sind schon etwas länger da als wir, aber ich werde den Großteil meines Jahres
mit ihnen verbringen; Maria bleibt nur für 6 Monate hier.
So richtig kennen wir die anderen Freiwilligen aber
noch nicht, denn während unserer ersten Arbeitswoche wurden uns
unterschiedliche Aufgaben zugeteilt: Maria und ich haben bei der (Hausaufgaben-)Betreuung
mitgeholfen.
Montagnachmittag durfte ich also meine ersten Erfahrungen
in der Betreuung machen: Die etwa 25 Kinder sind zwischen 6 und 12 Jahren alt, sehr
offen und scheinbar sehr entspannt und erfahren im Umgang mit (neuen)
Freiwilligen mit mäßigen Spanischkenntnissen. Ich habe einem Mädchen 2 Seiten
Text (auf Spanisch) diktiert und dabei die spanischen Bezeichnungen der
Satzzeichen gelernt. Dann habe ich Matheaufgaben (Multiplikation 2. Klasse)
korrigiert, während ich mich Fragen gelöchert und rosa Stickern beklebt wurde.
Diese 3 Mädchen habe ich zu meiner Freude dazu überreden können, gemeinsam
lesen zu üben – schließlich muss ich auch trainieren J Der Nachmittag verging so schnell und ich habe
erst gemerkt, wie sehr es mich auch angestrengt hat, als ich um 21:15 erschöpft
ins Bett gefallen bin!
Leider konnte ich an den darauffolgenden Tagen
nicht im Projekt arbeiten, da ich mir am Wochenende zuvor wohl eine ziemlich heftige
Erkältung eingefangen hatte... Das erste Mal Kranksein in Bolivien weit weg von
meiner Familie hat sich aber zum Glück als gar nicht so schlimm herausgestellt,
denn meine Gastfamilie hat sich gut um mich gekümmert und mir die Zeit gegeben,
die ich zum Gesundwerden brauchte.
Außerdem hatte ich auf diese Weise die Gelegenheit,
einen meiner Meinung nach sehr guten Roman zu lesen: „Die Wahrheit über den
Fall Harry Quebert“ – ein sehr lesenswertes Buch! Ich habe lange nicht mehr in
so kurzer Zeit so viel Text verschlungen.
In der 2. Arbeitswoche im Projekt haben wir
schließlich einen neuen Stundenplan ausgearbeitet – ich werde hauptsächlich im
Sala de Tareas (Hausaufgabenbetreuung) und bei der „Escuela movil“ mitarbeiten,
außerdem einmal in der Woche in einem sogenannten „Cerpito“. Was mich dort
erwartet, weiß ich allerdings noch nicht so genau... Ich hoffe sehr, dass ich
auch die Möglichkeit bekommen werde, bei anderen Freizeitaktivitäten des
Projektes mitzuarbeiten; das sind zum Beispiel Ballettstunden, Tanzunterricht
(folkloristische Tänze), Musikunterricht, Sport oder das Kennenlernen von
Computerprogrammen.
Highlights der ersten Tage
Tomkes Geburtstag
Am unserem
ersten Samstag in Sucre haben wir Geburtstag gefeiert! Tomke ist 19 Jahre alt
geworden und wir haben ihr einen Kuchen gebacken – und zwar ohne Waage oder
Mixer. Er war zum Glück trotzdem genießbar:
Eine bolivianische Hochzeit
Am
darauffolgenden Samstag hat eine Cousine unserer Familie geheiratet. Das Essen
dafür (für über 60 Personen) wurde in unserer Küche zubereitet und anschließend
zum Haus des Brautpaares gebracht, wo gefeiert wurde. Kathi und ich durften
dort zu Mittag essen und auch die Hochzeitstorte probieren. Das Essen war wie
immer sehr lecker und es gab unglaublich viel!
Das Brautpaar
selbst haben wir nur flüchtig gesehen und außer dem Essen leider auch nicht
viel von der restlichen Feier mitbekommen... Aber ich möchte nicht die
bolivianische Musik vergessen, zu der später traditionelle Tänze getanzt wurden
– das gefällt mir hier so gut! Alle Gäste waren sehr nett und einige auch sehr
interessiert, sich mit uns zu unterhalten; wie uns denn Sucre gefalle und warum
wir ausgerechnet nach Bolivien gekommen sind.
Die ersten Tapas! |
Das erste bolivianische Konzert bei der Recoleta |
Mercado Central
Während der
ersten Tage haben wir natürlich auch die große Markthalle im Zentrum der Stadt
besucht. Dort gibt es einfach alles - von künstlerisch verzierten Sahnetorten
über Kosmetikartikel zu Hühnerfüßen und ganzen Schweinen scheint es an nichts
zu fehlen. Es ist wohl so, dass die Dinge, die hier verkauft werden, identisch
mit denjenien aus dem Supermarkt sind (nur dass sie dort verpackt sind), nur
hier bekommt man sie viel günstiger. Ob ich hier aber mein Fleisch und rohe
Eier kaufen würde, darüber bin ich mir noch nicht sicher...
Last but not
least: Ich habe jetzt auch einen bolivianischen
Ausweis!
Ja, es ist
tatsächlich geschafft – ich durfte letzte Woche meine Bolivian ID in Händen
halten, nachdem zuvor mein Visum in La Paz ja schon anerkannt worden war. Damit
bin ich jetzt berechtigt, bis zum 14. September 2016 in Bolivien zu sein, und
muss hoffentlich nicht mehr die Touristenpreise beim Eintritt in Museen etc.
bezahlen (ausprobiert haben wir es aber bis jetzt nicht). Ein Foto erspare ich
euch allerdings lieber, die Passbilder in Deutschland sind nichts dagegen!
Die Mondfinsternis am 27. September |
Zu guter
Letzt möchte ich mich entschuldigen, dass es jetzt doch so lange gedauert hat,
mich auf dem Blog zu melden!
Zu meiner
Rechtfertigung: in meiner Familie gibt es leider kein WLAN, sodass ich für
Internet mit meinem Laptop immer in ein Café in der Innenstadt wandern muss.
Das ist allerdings nur am Wochenende möglich, da ich unter der Woche durch
meine Projektarbeit eingespannt bin. Die ersten Tage hier waren außerdem sehr
anstrengend, besonders wegen der Sprache, sodass ich erst, als ich wieder
gesund wurde, Energie hatte, um meine Erlebnisse und ersten Eindrücke aufzuschreiben
– auch das gehört dazu.
Ich hoffe, ihr
freut Euch trotzdem über den verspäteten Post!
Liebste
Grüße aus Sucre
Sendet Euch
Sophia (so
werde ich hier von den meisten genannt)