Freitag, 9. Oktober 2015

De Sucre

Es donnert gewaltig, dann folgt ein Blitz, der die schnell hereinbrechende Dunkelheit gleißend durchbricht. Plötzlich kann ich die Stadt hell erleuchtet vor mir liegen sehen. Ich stehe auf einer Terrasse im obersten Stockwerk eines Hauses, das auf einem kleinen Hügel der Hauptstadt Boliviens liegt. Mein neues Zuhause. Bienvenido a Sucre!



Als die Wolken zerbrechen und der Regen die letzten Sonnenstrahlen des Tages verschwimmen lässt, bin ich wieder in meinem Zimmer. Es ist ziemlich groß und die Fenster auf Südost- und Nordwestseite lassen tagsüber viel Licht und Wärme herein. Neben einem Bett und einem Kleiderschrank, den ich noch gar nicht wirklich zu füllen weiß, gibt es einen Schreibtisch mit Stuhl, einen Sessel sowie ein Bücherregal. Ich glaube, hier werde ich mich die nächsten 11 Monate sehr wohl fühlen.

Der Blick aus meinem Zimmer über Sucre

...und von unserer Terrasse!

Tatsächlich bin ich nun seit mehr als zwei Woche hier in Sucre, in meiner neuen Gastfamilie – zusammen mit Katharina aus Wien. Wir teilen uns das oberste (3.) Geschoss des großen Hauses, in dem außer uns noch (mindestens) 7 andere Personen leben.
Am Tag unserer Ankunft, am 22. September, wurden wir hier sehr herzlich begrüßt: „Ich bin jetzt eure Mama!“, so umarmte uns Justa, die Hausherrin und Mutter von 4 Kindern, die selbst auch schon Kinder haben.
Unsere Gastfamilie hat seit 2006 insgesamt bereits 20 andere Freiwillige bei sich aufgenommen, deshalb gelten auch für uns klare Regeln. Das ist gut, denn viele Fragen konnten so am Anfang geklärt werden. Wir sind für unser Geschoss, also unsere Zimmer und ein Bad, zuständig und halten es sauber. Wenn uns an Lebensmitteln etwas fehlt (wie zum Beispiel Marmelade oder Müsli), kaufen wir es uns selber. Wir leben hier also relativ autonom, was mir mittlerweile gut gefällt.

Mittags, zur Hauptmahlzeit, kommt (fast) die ganze Familie zusammen und isst gemeinsam. Das bedeutet auch für mich, dass ich vormittags im Projekt arbeite, zum Mittagessen nach Hause fahre und danach wieder ins Projekt gehe. Ist es nicht schön, dass es hier Brauch ist, dass man mittags Zeit für seine Familie hat?

Aber noch einmal zurück zu meiner Ankunft:

Die Herfahrt zuvor  in einem unglaublich komfortablen (und das ist keine Ironie!) bolivianischen Reisebus hat leider 16 statt den geplanten 12 Stunden gedauert, denn unser Bus hatte (ganz unerwartet...) keinen Diesel mehr im Tank. So sind wir erst gegen Mittag ziemlich erschöpft in Sucre angekommen.






Sucre wird in meinem Reiseführer wie folgt beschrieben:

„Die 1538 gegründete Stadt auf 2790 Metern zählt heute über 400.000 Einwohner  und hat eine ausgesprochen entspannte Atmosphäre und ein andalusisch anmutendes Flair. Mit ihren wunderschönen, weißen Kolonialbauten, den gepflegten Plazas und Parques ist Sucre die schönste Stadt Boliviens. (...) sie wurde 1992 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Sucre ist die konstitutionelle Hauptstadt Boliviens, doch bis auf den obersten Gerichtshof befinden sich alle Regierungseinrichtungen in La Paz.
(...) Die Stadt wurde (übrigens) nach dem Freiheitskämpfer und späteren Präsidenten Don Antonio José de Sucre benannt.
(...) 1623 wurde hier eine der ersten Universitäten Südamerikas gegründet, und die 20.000 Studenten der Stadt bestimmen mit ihren Bars und Kneipen heute die Atmosphäre. (...)“

Da meine Heimatstadt Fulda mit ihren etwa 60.000 Einwohnern nicht gerade zu den größten Städten Deutschlands zählt, war ich sehr zufrieden, in einer bolivianischen Stadt mit „Kleinstadtflair“ leben zu dürfen. Ich kann auch bestätigen, dass Sucre – gerade im Vergleich mit La Paz – eine sehr angenehme, ruhigere Atmosphäre hat (das ist besonders am Verkehr deutlich zu sehen: es wird viel weniger gehupt und geschimpft...). Es fahren hier sogar Linienbusse, die zwar keine Haltestellen oder feste Zeiten haben, aber ausgesprochen günstig sind und mit denen man in 15-30 Minuten fast die ganze Stadt durchqueren kann. Von meinem Wohnort aus kann ich in 10 Minuten (bergab) zum Zentrum laufen – das ist wirklich perfekt und erleichtert einiges.
Die Kolonialbauten sind wirklich wunderschön und sehr beeindruckend! Aber ich muss zugeben, dass ich mir nach den vielen Schwärmereien über die Schönheit der Stadt noch viel mehr weiße Häuser vorgestellt habe. Nichtsdestotrotz ist die Innenstadt sehr gepflegt und es gibt viele ruhige Plätze zum Verweilen, zum Beispiel den Parque Bolivar, einen großen Park nahe des Zentrums, dem Plaza 25 de Mayo. Dort habe ich mir Sonntagabends schon die „Aguas danzantes“ angesehen, das ist ein Spiel von Wasserfontänen zu Instrumentalmusik, wirklich wunderschön und sehr romantisch!








Die Bewohner Sucres sind tatsächlich unglaublich stolz auf ihre Stadt (Aufschrift eines Schildes aus dem Park: Sucre, die Stadt, in der die Kultur zu Hause ist...) und ihre Sehenswürdigkeiten – was sie aber sympathisch macht.
Zuletzt zu den vielen Cafés, Bars, Restaurants – ich glaube, man könnte einen Monat lang jeden Tag in ein anderes Café gehen, so viele süße kleine Orte gibt es rund um den Plaza 25 de Mayo. Im Moment sind wir noch in der Testphase (der Free-Wifi-Restaurants), aber mir gefallen sie schon jetzt sehr gut. In den Bars spielen am Wochenende oftmals Live-Bands und deren Musik ist auch tanzbar – einen Clubbesuch haben wir uns dagegen für das kommende Wochenende vorgenommen.
Alles in allem gefällt mir die Stadt sehr gut und der Reiseführer hat nicht zu viel versprochen. Ich kann euch allen einen Besuch hier sehr empfehlen!

Anika, Tomke, Maria und Kathi auf dem Plaza 25 de Mayo

 Mein Projekt „CERPI“ habe ich schon am Freitag, dem 25. September, zum ersten Mal kurz besucht. Am Montag darauf sollte es dann richtig losgehen – aber dazu später mehr. Von meinem Zuhause sind es etwa 20 Minuten mit dem Bus zum Stadium der Stadt, wo ich aussteige und anschließend noch 5-7 Minuten zum Projekt laufe.
Ich arbeite in einem Tageszentrum für Kinder und Jugendliche, das verschiedene Einzelprojekte unterhält. Zum Beispiel werde ich die „Escuela movil“ unterstützen, eine, wie der Name schon verrät, Schule auf Rädern, die jeden Tag in einem anderen Stadtteil Sucres ihre Zelte aufschlägt, um den dort lebenden Kindern die Möglichkeit zu geben, spielend zu lernen. Die „Escuela movil“ kann man sich wie eine große Tafel mit verschiedenen didaktischen Übungen vorstellen, die an das Niveau der Schüler angepasst werden können. Sobald ich etwas mehr Erfahrung mit dieser Methode gesammelt habe, werde ich genauer darüber berichten.





















Außer mir hat auch Maria, ebenfalls eine Freiwillige des ICYE (auch aus Wien), am Montag angefangen, bei diesem Projekt zu arbeiten. Das ist sehr schön für mich, denn so können wir uns austauschen und Fragen klären.
An unserem ersten Tag haben wir dann also auch die anderen 4 Freiwilligen kennen gelernt, die CERPI ebenfalls unterstützen. Sie sind schon etwas länger da als wir, aber ich werde den Großteil meines Jahres mit ihnen verbringen; Maria bleibt nur für 6 Monate hier.
So richtig kennen wir die anderen Freiwilligen aber noch nicht, denn während unserer ersten Arbeitswoche wurden uns unterschiedliche Aufgaben zugeteilt: Maria und ich haben bei der (Hausaufgaben-)Betreuung mitgeholfen.
Montagnachmittag durfte ich also meine ersten Erfahrungen in der Betreuung machen: Die etwa 25 Kinder sind zwischen 6 und 12 Jahren alt, sehr offen und scheinbar sehr entspannt und erfahren im Umgang mit (neuen) Freiwilligen mit mäßigen Spanischkenntnissen. Ich habe einem Mädchen 2 Seiten Text (auf Spanisch) diktiert und dabei die spanischen Bezeichnungen der Satzzeichen gelernt. Dann habe ich Matheaufgaben (Multiplikation 2. Klasse) korrigiert, während ich mich Fragen gelöchert und rosa Stickern beklebt wurde. Diese 3 Mädchen habe ich zu meiner Freude dazu überreden können, gemeinsam lesen zu üben – schließlich muss ich auch trainieren J Der Nachmittag verging so schnell und ich habe erst gemerkt, wie sehr es mich auch angestrengt hat, als ich um 21:15 erschöpft ins Bett gefallen bin!

Leider konnte ich an den darauffolgenden Tagen nicht im Projekt arbeiten, da ich mir am Wochenende zuvor wohl eine ziemlich heftige Erkältung eingefangen hatte... Das erste Mal Kranksein in Bolivien weit weg von meiner Familie hat sich aber zum Glück als gar nicht so schlimm herausgestellt, denn meine Gastfamilie hat sich gut um mich gekümmert und mir die Zeit gegeben, die ich zum Gesundwerden brauchte.
Außerdem hatte ich auf diese Weise die Gelegenheit, einen meiner Meinung nach sehr guten Roman zu lesen: „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ – ein sehr lesenswertes Buch! Ich habe lange nicht mehr in so kurzer Zeit so viel Text verschlungen.

In der 2. Arbeitswoche im Projekt haben wir schließlich einen neuen Stundenplan ausgearbeitet – ich werde hauptsächlich im Sala de Tareas (Hausaufgabenbetreuung) und bei der „Escuela movil“ mitarbeiten, außerdem einmal in der Woche in einem sogenannten „Cerpito“. Was mich dort erwartet, weiß ich allerdings noch nicht so genau... Ich hoffe sehr, dass ich auch die Möglichkeit bekommen werde, bei anderen Freizeitaktivitäten des Projektes mitzuarbeiten; das sind zum Beispiel Ballettstunden, Tanzunterricht (folkloristische Tänze), Musikunterricht, Sport oder das Kennenlernen von Computerprogrammen.

Highlights der ersten Tage

Tomkes Geburtstag
Am unserem ersten Samstag in Sucre haben wir Geburtstag gefeiert! Tomke ist 19 Jahre alt geworden und wir haben ihr einen Kuchen gebacken – und zwar ohne Waage oder Mixer. Er war zum Glück trotzdem genießbar:




 Eine bolivianische Hochzeit
Am darauffolgenden Samstag hat eine Cousine unserer Familie geheiratet. Das Essen dafür (für über 60 Personen) wurde in unserer Küche zubereitet und anschließend zum Haus des Brautpaares gebracht, wo gefeiert wurde. Kathi und ich durften dort zu Mittag essen und auch die Hochzeitstorte probieren. Das Essen war wie immer sehr lecker und es gab unglaublich viel!
Das Brautpaar selbst haben wir nur flüchtig gesehen und außer dem Essen leider auch nicht viel von der restlichen Feier mitbekommen... Aber ich möchte nicht die bolivianische Musik vergessen, zu der später traditionelle Tänze getanzt wurden – das gefällt mir hier so gut! Alle Gäste waren sehr nett und einige auch sehr interessiert, sich mit uns zu unterhalten; wie uns denn Sucre gefalle und warum wir ausgerechnet nach Bolivien gekommen sind.

Die ersten Tapas!


Das erste bolivianische Konzert bei der Recoleta

 Mercado Central
Während der ersten Tage haben wir natürlich auch die große Markthalle im Zentrum der Stadt besucht. Dort gibt es einfach alles - von künstlerisch verzierten Sahnetorten über Kosmetikartikel zu Hühnerfüßen und ganzen Schweinen scheint es an nichts zu fehlen. Es ist wohl so, dass die Dinge, die hier verkauft werden, identisch mit denjenien aus dem Supermarkt sind (nur dass sie dort verpackt sind), nur hier bekommt man sie viel günstiger. Ob ich hier aber mein Fleisch und rohe Eier kaufen würde, darüber bin ich mir noch nicht sicher...




Last but not least: Ich habe jetzt auch einen bolivianischen Ausweis!
Ja, es ist tatsächlich geschafft – ich durfte letzte Woche meine Bolivian ID in Händen halten, nachdem zuvor mein Visum in La Paz ja schon anerkannt worden war. Damit bin ich jetzt berechtigt, bis zum 14. September 2016 in Bolivien zu sein, und muss hoffentlich nicht mehr die Touristenpreise beim Eintritt in Museen etc. bezahlen (ausprobiert haben wir es aber bis jetzt nicht). Ein Foto erspare ich euch allerdings lieber, die Passbilder in Deutschland sind nichts dagegen!






Die Mondfinsternis am 27. September
Zu guter Letzt möchte ich mich entschuldigen, dass es jetzt doch so lange gedauert hat, mich auf dem Blog zu melden!

Zu meiner Rechtfertigung: in meiner Familie gibt es leider kein WLAN, sodass ich für Internet mit meinem Laptop immer in ein Café in der Innenstadt wandern muss. Das ist allerdings nur am Wochenende möglich, da ich unter der Woche durch meine Projektarbeit eingespannt bin. Die ersten Tage hier waren außerdem sehr anstrengend, besonders wegen der Sprache, sodass ich erst, als ich wieder gesund wurde, Energie hatte, um meine Erlebnisse und ersten Eindrücke aufzuschreiben – auch das gehört dazu.

Ich hoffe, ihr freut Euch trotzdem über den verspäteten Post!

Liebste Grüße aus Sucre
Sendet Euch
Sophia (so werde ich hier von den meisten genannt)