Mittwoch, 2. März 2016

Ya 6 meses! - CERPI

 Heute vor ganz genau 6 Monaten habe ich zum 1. Mal bolivianischen Boden betreten.
Das bedeutet: die Hälfte meines Freiwilligendienstes ist vorbei! Ich weiß nicht, ob ich mich mehr darüber freue, dass die letzten 6 Monate so grandios verlaufen sind und wie viele schöne Erinnerungen ich schon gesammelt habe, oder doch eher darüber, dass mir noch 6 Monate bleiben, auf die ich schon sehr gespannt und voller Vorfreude bin.
 Beides ein bisschen :-)

Für mein Förderprogramm IJFD und den ICJA habe ich anlässlich der Halbzeit einen Bericht geschrieben, in dem ich über mein Projekt, meine Familie und meine Erfahrungen in Südamerika reflektiere. Einen Teil davon möchte ich hier auf dem Blog veröffentlichen - und zwar den meiner Meinung nach spannendsten: über mein Projekt, meine Arbeit im CERPI.

Viel Spaß beim Lesen und liebste Grüße aus Sucre!

Mein Projekt: CERPI

Nun zu meinem Projekt (worüber ich nicht viel mehr wusste, als dass ich mit Kindern arbeiten würde, da die Beschreibung relativ unklar war): ich arbeite im CERPI (Centro de Recursos Pedagógicos Integrales), einem Zentrum für Kinder von 4 bis 16 Jahren gelegen in der Nähe des Mercado Campesino von Sucre. Das CERPI ist ein „Unterprojekt“ der Stiftung I.P.T.K. und bietet ein großes Freizeitangebot für Kinder an. Für die Kurse, zum Beispiel Hausaufgabenbetreuung im „Sala de tareas“, Kindergarten, Schach, Tanzen, Musik, Malen, Sport und Computer, müssen die Eltern sie jeden Monat gegen einen „Unkostenbeitrag“ zwischen 7€ und 15€ anmelden – das bedeutet demnach, dass dadurch Kinder aus ärmeren Verhältnissen ausgeschlossen werden, was ich sehr schade finde.
Meine ersten beiden Arbeitswochen arbeitete ich zunächst nur im Sala de Tareas, zum einen weil die 4 anderen schon anwesenden Freiwilligen ein Theaterstück mit der Escuela movil einstudierten, zum anderen um die Sprache besser verstehen zu lernen. Anschließend teilten wir uns auf, sodass immer 2 Freiwillige im Sala und 2-4 Freiwillige bei der Escuela waren. Dieses System und die Zusammenarbeit mit den anderen hat mir den Einstieg in das Projekt wirklich erleichtert.
Zu Beginn habe ich mir natürlich sehr viel abgeschaut und oft nachfragen müssen, aber auch die Kinder, mit denen wir arbeiten, sind neue Freiwillige gewohnt und geben gerne Auskunft oder korrigieren das holprige Spanisch. 


 
Der Sala de Tareas – Hausaufgabenraum – gibt Kindern der 1. Schule (Primaria, 1.-6. Klasse, das heißt 6-12/13 Jahren) die Möglichkeit, dort ihre Hausaufgaben für die Schule mit der Unterstützung von 2 Profesoras und uns Freiwilligen zu erledigen. Das betrifft besonders die Kinder, deren Eltern keine Zeit haben, auf sie aufzupassen, und/oder nicht helfen können, wenn die Kinder Fragen haben. Einige Kinder stammen aber auch aus Familien mit gravierenderen Problemen, sie sind zum Beispiel (Halb-)Waisen oder ihre Eltern leben getrennt. Manchmal, wenn ich mit Kindern ins Gespräch komme, vertrauen sie mir die Geschichte ihrer Familie an. Das genieße ich sehr als Freiwillige, dass wir nicht der Verpflichtung unterliegen, bloß die Hausaufgaben zu erledigen, sondern uns die Zeit nehmen können, mit den Kindern über alltägliche Dinge, aber auch – wenn sie es möchten – über ihre Probleme zu reden.
Ich mag die Arbeit im Sala de Tareas, wo ich drei Mal die Woche arbeite. Die Kinder sprechen mich mittlerweile von selbst an, wenn ich ihnen helfen soll, und ich muss mich nicht mehr andauernd anbieten. Außerdem sind die Hausaufgaben selbst mit meinen jetzigen Spanischkenntnissen meistens gut zu erklären – aber ich lerne auch immer noch sehr viel dort (einigen Kindern gefällt es, mir regelmäßig neue, ausgefallene Vokabeln beizubringen – und sie wollen im Gegenzug die deutsche Übersetzung hören).

Die TOP 3 der Hausaufgaben sind (meiner Erfahrung nach)
1.   „copiar“ – Schreibe das, was du lernen sollst, aus dem Buch ab. Schreibe das, was du schon einmal geschrieben hast, in Schönschrift noch einmal ab. Schreibe die Seite, auf der du einen Fehler gemacht hast, der nicht mit Radiergummi korrigiert werden kann, noch einmal komplett ab.
2.   „mathematica“ – All das, was ich auch in der Grundschule gelernt habe: Schriftliches Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren (darin bin ich mittlerweile wieder richtig geübt); das kleine Einmaleins; Sachaufgaben. Aber auch: Schreibe alle Zahlen von 1 bis 1000. Schreibe alle Zahlen von 1 bis 500 mit Namen (jeweils in Druckschrift und Schreibschrift). Schreibe jedes Vielfache von 5 von 5 bis 5000 usw.
3.   „dibujar“ – Zeichne die Illustration dieser Geschichte, nachdem du sie abgeschrieben hast, daneben. Zeichne eine Landkarte von Bolivien/eines der Departamentos. Eher selten: Zeichne ein selbst erdachtes Bild zu einer Geschichte. Zeichne aus dem Kopf und lass deiner Kreativität freien Lauf.

Wie ihr seht, gibt es einige Unterschiede zwischen dem bolivianischen und dem hessischen Schulsystem – ich stehe dem Ganzen (besonders dem stupiden Kopieren und Schreiben einer scheinbar unendlichen Zahlenfolge) etwas kritisch gegenüber. Bei diesen Aufgaben kann ich auch schlecht helfen. Am liebsten helfe ich wohl bei Matheaufgaben – obwohl ich das auch nicht verallgemeinern möchte. Denn wenn ein zwölfjähriges Kind noch immer Additionen im Zahlenbereich von 1-20 an seinen Händen abzählen muss, kann das schon deprimierend sein... Da wünsche ich mir nicht selten, ich hätte eine pädagogische Ausbildung oder zumindest eine bessere Strategie, um die Kinder mit der Welt der Zahlen zu befreunden!
Bei vielen Kindern kann ich aber jetzt schon Fortschritte sehen und manche sind sogar richtig gut in der Schule (es ist also gar nicht so anders wie in Deutschland) -  da macht es umso mehr Spaß zu helfen.
Was mir noch aufgefallen ist: in der Schule wird viel über Bolivien selbst und über die Helden der Geschichte gelehrt. Und ich habe schon etliche Male geholfen, die Nationalflagge abzuzeichnen.
Auch wenn die Kreativität der Schüler beim Zeichnen meist nicht sonderlich gefordert ist, ist diese bei handwerklichen Aufgaben sehr gefragt – nicht selten wird gebastelt, eine Tischdecke bemalt, ein Modell gebaut, ein Spiegel verschönert, ein Bild gestickt. Das gefällt mir richtig gut und ich finde es echt schade, dass ich das in meiner Schulzeit nicht so erleben durfte.


Escuela movil

Die Arbeit mit der „Escuela movil“ gefällt mir dagegen noch besser: ein Minibus mit einem speziell konstruierten „Tafelkasten“, mit dem die beiden bolivianischen Verantwortlichen (Gladys als Profesora und Vladi als unser Fahrer) und wir Freiwilligen vormittags und nachmittags je an verschiedene Orte in der Stadt und Dörfern der Umgebung fahren, um die dort lebenden Kinder zu besuchen, mit ihnen Hausaufgaben zu machen, zu lernen und zu spielen – am besten alles gleichzeitig. Das tolle ist, dass immer alle willkommen sind und mitmachen dürfen, ganz gleich ob es sich um Kleinkinder oder doch schon 17-jährige Jungs handelt; die eigentliche Zielgruppe sind Kinder von 6 bis 14 Jahren. Außerdem kostet die Teilnahme nichts, was wirklich wichtig ist, denn sonst würden bei weitem nicht so viele Kinder teilnehmen (an manchen Tagen kommen auf den Dorfsportplätzen 50-60 Kinder zusammen). Ich war also sehr sehr froh, die Escuela movil das Herzstück meiner Freiwilligenarbeit nennen zu dürfen.

Die Escuelita movil bei Sonnenuntergang

Gladys und meine Mitfreiwilligen (v.l.n.r. Cathy aus Frankreich, Maria aus Österreich, Franzi und Laura aus Deutschland, Christian aus Liechtenstein; davor Gladys aus Sucre mit mir)

Die Highlights meiner ersten zwei Arbeitsmonate stellen auf jeden Fall die Talleres (Workshops) über Kinderrechte mit der Escuela movil und die CERPI-GALA, ein Präsentationsabend aller Kurse zum Schuljahresabschluss, dar.

Basteln für Kinderrechte...
Kurz vor der Abfahrt zur Feria educativa

Sonnenuntergang in Llinfi
...in Lajastambo
Aufmerksame Kinder beim Taller in Alegria

Fertig aufgebaute Bühne für die CERPI-GALA im November
Stolze Voluntarias mit unseren CERPITO-Kindern

CERPITO

Bis zum Ende des Schuljahres, das hier im November ist, habe ich zusätzlich zweimal wöchentlich mit einer anderen Freiwilligen in einem „CERPITO“ gearbeitet. Das ist eine Miniausgabe des CERPI (Hausaufgabenhilfe für etwa 25 Kinder) etwas weiter außerhalb und wir haben uns jede Woche eine kleine Aktivität (Origami, Gebrauch des Internets...) ausgedacht, um den Kindern dort den Alltag abwechslungsreicher zu gestalten. Wir haben zum Beispiel auch mal einen kleinen Ausflug in ein Museum gemacht. Auch eine sehr schöne Erfahrung!

Im Micro zum Museum...
Meine Anfangszeit im Projekt habe ich wegen dieser Vielseitigkeit und auch großen persönlichen Fortschritten in sehr positiver Erinnerung.

Clases de Inglés


Ein bisschen Geographie:
Ab Dezember fuhren wir nicht mehr mit der Escuela raus, das CERPITO schloss, im Sala de Tareas mussten keine Hausaufgaben mehr gemacht werden und so suchten wir Freiwilligen uns eine neue Aufgabe für die 2-monatigen Sommerferien: Englischunterricht, da der schulische an den hiesigen Schulen etwas mager ausfällt. Da ich im Dezember noch eine längere Reise unternahm, übernahm ich mit einer anderen Freiwilligen den täglichen Unterricht im Januar. 4 Wochen lang jeden Tag 4 Stunden Unterricht für 4 sehr unterschiedliche Gruppen (nicht nur hinsichtlich Anzahl, Alter und Schreibgeschwindigkeit der Schüler) zu geben, stellte für mich eine große Herausforderung dar – zumal ich nur aus meinen eigenen Erfahrungen aus Schülersicht Ideen und „Unterrichtsmethoden“ übernehmen und keinerlei pädagogische Ausbildung vorweisen konnte. Aber, das kann ich mit Zufriedenheit behaupten, ich habe mich darauf eingelassen, mein bestes gegeben und den Kurs mit einem guten Gefühl und vielen nützlichen Erfahrungen beendet: Ich habe gelernt, selbstbewusster vor einer Gruppe zu sprechen, Aufgaben und Spiele anzuleiten und auch mal konsequent für Ruhe zu sorgen, wenn es nötig war. Weiterhin war die Teilnahme an unserem Englischkurs so gut, dass wir, da wir als Freiwillige natürlich ohne Bezahlung arbeiteten, uns als gute „Geldbringer“ für das CERPI erwiesen... denn wie nicht wenige andere ist auch das I.P.T.K. auf Spenden aus Europa angewiesen, um Projekte wie das CERPI und die Escuela movil aufrecht erhalten zu können.

Wie sehr die Abhängigkeit doch besteht, wurde mir klar, als uns im Dezember schon eröffnet wurde, dass wegen des Ausbleibens einiger Spenden die Finanzierung der Escuela für das neue Schuljahr nicht möglich sei. Die beiden Mitarbeiter wurden entlassen, es hieß, sofern genügend Geld (um die 20.000€) vorhanden sei, würden sie wieder angestellt und die Arbeit wieder aufgenommen werden. Das war für uns alle eine schockierende Nachricht – und vor allem stellte sich bei uns Freiwilligen die Frage: „Was können wir tun? Ist es sinnvoll, von Bolivien aus eine Spendenaktion in unseren Ländern zu starten? Was, wenn es im kommenden Jahr wieder kein Geld gibt?“
Um es kurz zu fassen: wir fragten uns, was unsere Rolle eigentlich ist.

Auf dem Vorbereitungsseminar habe ich gelernt, dass wir als Freiwillige nicht in ein anderes Land gehen, um durch Geldspenden zu helfen, sondern wegen der sozialen Arbeit. Das Projekt selbst muss mit eventuellen Geldproblemen umgehen und eine eigene Lösung finden. Und ja, auch wenn ich mir das sehr zu Herzen nehme, weil ich es für richtig empfinde, war es wirklich schwer zu akzeptieren, dass die Escuela plötzlich nicht mehr existieren sollte. Bis jetzt, nachdem schon der 1. Monat des neuen Schuljahres vorbei ist, sind wir nicht mehr mit der Escuela unterwegs gewesen.

Aber es gibt wohl Hoffnung auf einen Wiederbeginn, denn ehemalige Freiwillige des CERPI haben ihre Kontakte in Europa genutzt, um den Großteil des Geldes durch Spenden zu sammeln. Das alles wissen wir aber nur von den Exfreiwilligen selbst, denn das I.P.T.K. hält sich mit Informationen für uns zurück. Das ist sehr schade, denn schließlich ist die Escuela ein Großteil unserer Arbeit gewesen und wir sind schlicht zu viele Freiwillige für das CERPI, wenn wir nur in der Hausaufgabenhilfe arbeiten und ab und zu 3-4 Kindern Englischunterricht geben; das CERPITO wurde übrigens ebenfalls wegen Geldmangels noch nicht wieder geöffnet.
Meine Unterstützung im Sala de Tareas erscheint mir selbst viel hilfreicher als noch im November, weil ich zum einen deutlich besseres Spanisch spreche und zum anderen weiß, wie ich wem helfen kann. Diese Eigeninitiative ergreifen zu können hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben und macht unglaublich viel Spaß.
Zurück zu der Frage, was meine Rolle im Projekt sei – das hat mich wirklich eine Zeit lang beschäftigt. Als Freiwillige bin ich sehr flexibel einsetzbar und habe gleichzeitig viele Freiheiten, da meine Arbeit keinem Vertrag unterliegt; das weiß ich sehr zu schätzen und genieße diese besondere Stellung. Ich glaube, meine Rolle ist das, was ich daraus mache. Am Ende dieses Jahres würde ich gerne sagen können, dass ich den Kindern „Profe“, Spielkameradin und Freundin mit offenen Ohren, Augen und Händen gewesen bin.

Mein größter Wunsch für die nächsten 6 Monate ist natürlich die Weiterarbeit mit der Escuela movil – besonders die Talleres über Kinderrechte liegen mir am Herzen. Es wäre schade, wenn dieses tolle Projekt klammheimlich im Sand verlaufen würde, und es lohnt, sich für all’ die Kinder einzusetzen, die noch immer jede Woche auf unser Kommen hoffen.


Bis zum nächsten Mal!