Montag, 21. September 2015

Im Herzen von Pachamama

Bald beginnt das 2. Kapitel meiner großen Reise. Das Leben nach der Schule.

Eigentlich war ich in den letzten Wochen, Monaten, seit dem 19. Juni so frei wie ein Vogel - vieles stand mir offen, viele Möglichkeiten habe ich genutzt, aber auch entspannt, abgeschaltet und den Dingen ihren Lauf gelassen. 
Diese kurze Zeit erscheint mir so lange, weil so viel sich verändert hat. Und wenn ich mich umwende und noch einmal kurz zurückblicke, dann spüre ich die Sehnsucht, mich wieder niederzulassen, ein neues, mein eigenes, Nest zu bauen (um in der Vogel-Metapher zu bleiben). Ich denke, jeder wünscht sich von Zeit zu Zeit Beständigkeit. Es gibt eine Zeit der Freiheit, der Spontanität und Aufregung - aber es muss auch eine Zeit des Ankommens und der Ruhe geben.

Seit meiner Ankunft in Südamerika habe ich Wunderbares erlebt, erstaunlich viele Seiten meines Tagebuches sind schon voll und ich komme mit den Berichten nicht hinterher! Aber das, was ich erlebt habe, könnte jeder abenteuerlustige Tourist auch erlebt haben - Sightseeing mit etlichen Fotoaufnahmen, orientierungslos eine Stadtkarte in der Hand haltend, bevor man den Weg von englisch sprechenden Bolivianern erklärt bekommt. Ich bin froh, das alles so erlebt zu haben!
Doch nicht nur mein Wecker, der noch auf deutscher Zeit eingestellt ist, zeigt mir, dass ich noch nicht vollkommen angekommen bin. Ich will endlich meinen Koffer auspacken und in die Ecke stellen, mein eigenes Zimmer einrichten, meine Routine beginnen, mich in einer Stadt wie in meiner Heimatstadt auskennen! Und ich bin kurz davor:


Am Samstagabend bin ich von unserem Arrival Camp zurückgekommen. Wir waren für 3 Tage in den Yungas, einem Gebiet nordöstlich von La Paz, dort, wo die felsigen Wände plötzlich steil viele Meter in die Tiefe abfallen. Die Gegend bildet den Übergang von Andenhochland zum tropischen Regenwald des Amazonasgebietes. Auf der Fahrt über den La Cumbre-Pass auf etwa 4700m bis zum Ort Coroico auf 1750m durchquert man fast alle Klimazonen Südamerikas an einem Tag. Wir stoppten jedoch schon nach etwa 3,5 Stunden Fahrt mitten im Nirgendwo bei einer für Gäste hergerichteten, netten Villa mit Pool. 
Bei der Ankunft haben wir leider wegen der Dunkelheit die Landschaft noch nicht erkennen können - daher war aber auch die Hinfahrt wirklich sehr abenteuerlich! Die Straße, die zwar laut der ICYE-Mitarbeiter deutlich sicherer als die berühmte "Calle de la muerte" (Todesstraße) sein soll, schien dieser jedoch verdächtig ähnlich. "Aber es gibt doch eine Gegenfahrbahn!" - manchmal. Nicht nur einmal musste sich unser Busfahrer gekonnt an einem entgegenkommenden Kleinbus oder LKW vorbeiquetschen... 

Der Ausblick aus meinem Bett beim Aufwachen machte die vermeintlichen Strapazen der vergangenen Nacht augenblicklich wieder wett:




Der Essens- und Aufenthaltsraum
Wir wurden während unseres Aufenthaltes von einer bolivianischen Familie mit 2 kleinen, "ursüßen" Kindern bewirtet und bekocht - alle 2 Stunden legten wir eine Snackpause ein, um uns für die Einheiten zu stärken. Die 4 Männer vom ICYE - Yeyo, mein Gastpapa, war auch dabei - haben sich sehr viel Mühe bei der Gestaltung der kurzen Einheiten über  unsere bisherigen Erfahrungen, Erwartungen, Projekte und Städte gegeben. Oftmals war unsere Kreativität gefragt - besonders gut hat mir die Gestaltung von Mandalas mit buntem Salz bezüglich unserer Erwartungen gefallen.

Alles in allem war das Camp sehr entspannend, die Themen wurden auf den Punkt gebracht und wir hatten Zeit, um Spaß miteinander zu haben. Das Highlight stellte natürlich der Pool  dar, der von Tag zu Tag voller wurde und eine Erfrischung von dem angenehm warmen Wetter bot. 


Was mir noch gut gefallen hat?

- Der Länderabend: Wir bereiteten Präsentationen zu unseren Herkunftsländern vor, um sie danach der ganzen Gruppe vorzustellen. Ich habe das Gefühl, ich lerne hier nicht nur viel über Bolivien, sondern auch über Deutschland. Das ist ein eigenartiges, aber auch sehr  gutes Gefühl. Es gab außerdem einige kulinarische Spezialitäten (Mozartkugeln aus Österreich, Toblerone aus der Schweiz, Salmiak aus Finnland).

- Die "Dschungelwanderung" zum Fluss: Der kleine Spaziergang durch den Wald hat sich wirklich gelohnt - von den Bananenstauden am Wegesrand bis zu der Vielfalt an Schmetterlingen unten am Ufer. Nur der Rückweg bergauf war anstrengend.




















Worauf ich hätte verzichten können?
Eine Ameisenkolonie
- Die vielen toten (oder noch schlimmer: lebendigen) Insekten im gesamten Haus. Ob ein Kakerlaken-ähnlicher Käfer, der plötzlich in der Dusche herumkrabbelt oder ein von Faltern und Käfern bedeckter Bikini... 



Rauch- vs. Gewitterwolke

Was mir Spanisch vorkam?

- Ein Rodungsbrand, der seit unserer Ankunft auf dem gegenüberliegenden Berg für über 48 Stunden brannte. Warum der Wald hier vernichtet wird? Um nach der Regenzeit dort neue Felder zur Verfügung zu haben, vielleicht. Ganz genau wusste es keiner.






- Die gräuliche, stumpfe Farbe des Flusses - Ursache dafür sind Arbeiten, bei denen neues Material für einen Straßenbau abgebaut wird. Das hat leider ein bisschen die Idylle gestört...



Last but not least
Ich möchte nicht vergessen, von unserem Willkommensritual zu berichten: unsere 4 Teamer führten am letzten Abend ein Aymara-Ritual zu Ehren der Mutter Natur - Pachamama - durch. Sie weihten uns mit bolivianischem Alkohol für unser Jahr hier in Bolivien. Es soll uns Glück bringen und unsere Entwicklung positiv verstärken. Anschließend tanzten wir zu bolivianischer und internationaler Musik bis spät in die Nacht.


Am Samstag sind wir frühnachmittags zurück nach La Paz aufgebrochen - um dieses Mal die abenteuerliche Straße bei Tageslicht zu sehen. Der Ausblick ist wirklich einmalig! Ich muss zugeben, dass mir manchmal ein bisschen das Herz pochte, wenn bei dem Blick aus dem Fenster unter mir kein Weg, sondern nur ein steiler, mehr oder weniger bewachsener Hang zu sehen war! Dieses Mal konnte ich auch Fotos aufnehmen:


Zurück auf der asphaltierten Straße, kurz vor El Alto

Zurück in meiner Gastfamilie gab es alle Hände voll zu tun, denn mein Gastbruder feierte am diesem Abend seinen 12. Geburtstag mit der ganzen Familie! Die Party wurde vorgezogen, denn eigentlich hat er am Sonntag Geburtstag - allerdings war dies der Tag des Referendums (oder Referendi?).  Wegen dieses Ereignisses sind an diesem Sonntag keine Verkehrsmittel erlaubt, sodass nicht alle hätten kommen können.
Patty bereitete ihre weltberühmten Tacos vor und ich kann euch versichern: so unglaublich gute Tacos habe ich glaube ich noch nie gegessen! Es war eine schöne Atmosphäre, die ganze Familie war versammelt und ich konnte meine Spanischkenntnisse mal wieder erweitern. Nach den Tacos durfte Leandro die 12 Kerzen auf seiner Schokoladentorte auspusten, während alle anderen Geburtstagslieder sangen - genauso wie in Deutschland. Was mich gewundert hat, ist, dass er die Torte nicht ins Gesicht gedrückt bekam, was wohl auch ein Brauch hier in Bolivien ist (Ich habe es bei einer anderen Freiwilligen - Rahel - miterlebt!).

Am Sonntag durfte ich Yeyo und seine Geschwister zur Wahl begleiten - das war sehr interessant, nicht nur, weil in Bolivien jeder zur Wahl gehen MUSS (ansonsten muss man eine Strafe zahlen und erhält keine Karte mit einer wichtigen Transaktionsnummer; und  könnte also keine Bankgeschäfte durchführen). Worum genau es bei der Wahl ging, wussten die meisten selbst nicht ganz genau. Allgemein wurde gesagt, dass abgestimmt wird, ob die Regierung von La Paz autonom werden soll, da sie nicht mit den Regierungsparteien anderer Departamentos übereinstimmt. Damit einher sollen über 150 neue Artikel und Gesetze gehen, über die die Wähler aber in keiner Weise informiert wurden.
Im Grunde geht es also um eine Vertrauensfrage gegenüber der Regierung - mag man sie, stimmt man für SI, mag man sie nicht, mit NO.
Evo Morales ist hier sehr umstritten. In den Medien in Europa wird er oftmals als der beliebteste Präsident, den Bolivien je hatte, dargestellt. Allerdings halten manche Zeitungen auch La Paz für die Hauptstadt Boliviens (siehe FAZ - wer weiß es besser?). 
Politisch gesehen befindet sich Bolivien in einer spannenden und angespannten Situation. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis des Referendums und die folgenden Entwicklungen, über die ich bestimmt berichten werde! 


Heute, Montag (übrigens der Frühlingsanfang, der Tag der Liebe, der Freundschaft, der Schüler und der Ärzte!), bin ich ein letztes Mal zur Sprachschule gegangen. Danach durfte ich mein Visum in Händen halten und jetzt ist alles bereit für meine Weiterreise nach Sucre!
Das nächste Mal hört ihr also von mir aus meiner zukünftigen Stadt, wenn ich meine Gastfamilie dort kennen gelernt und vielleicht auch schon mein Projekt "CERPI" besucht habe. 

Gracias La Paz, especialmente gracias a mi familia encantadora! I am going to miss you!

Bis zum nächsten Mal und zum (vorerst) letzten Mal liebe Grüße aus La Paz
sendet Euch Sophie

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